Christliches „Hinschauen“ in der Flüchtlingskrise
Unter dem Titel
„Ich war obdachlos, und ihr habt mich (nicht) aufgenommen“ hat Willibald Sandler, Professor am Institut für Systematische Theologie der Universität Innsbruck und gefragter Redner, einige Gedanken über die - wie er es nennt - "missverstandene Weltgerichtsrede" in Matthäus 25 formuliert, die wir hier wiedergeben. Angesichts der Debatten in der österreichischen Öffentlichkeit über unsere Haltung gegenüber den Flüchtlingen ein sehr relevanter Beitrag.
„Ich war obdachlos, und ihr habt mich (nicht) aufgenommen“ Christliches „Hinschauen“ in der Flüchtlingskrise
Willibald Sandler, 23. 4. 2015
Christus begegnen an der Grenze zur Überforderung
Margit (Name geändert) war am Ende ihrer Kräfte. Zu ihren sonstigen Verpflichtungen kam nun noch die Demenzerkrankung ihrer Mutter dazu. Mitten in ihren pflegerischen und organisatorischen Herausforderungen war sie dann zufällig zu einem Frauenkaffee mit syrischen und afghanischen Flüchtlingen gegangen. Die Begegnung mit den jungen Frauen hatte sie tief berührt. Eine Liebe und eine Kraft begannen sie zu erfüllen, die sie früher nicht gekannt hatte. Inzwischen hat sie Freundschaften mit Flüchtlingen geschlossen und macht in der Asylantenarbeit mit. Die anderen Aufgaben, auch die Fürsorge für ihre Mutter, gingen ihr auf einmal viel leichter von der Hand.
„Ich war obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35): Etwas von diesem Jesuswort wurde für Margit erfahrbare Wirklichkeit, und zwar unerwartet. Denn obwohl sie eine entschiedene Christin ist, war sie zum Flüchtlingskaffee ohne fromme Absicht hingegangen. Sie war ganz einfach bei den jungen Frauen, – und hingerissen von ihnen. Erst später ging ihr dann auf, dass Jesus sie in ihnen ‚besucht‘ hatte. „Wann haben wir dich obdachlos gesehen und aufgenommen?“ (Mt 25,38) – Dieses erstaunte Nichtwissen gilt – Gott sei Dank – auch für die Christen.
Die missverstandene Weltgerichtsrede
„Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war ... fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Amen, ich sage euch: Was ihr einem meiner geringsten Brüder und Schwestern nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan“ (Mt 25,41-44).
Dieser Text macht vielen Christen Angst. Er scheint uns unter Druck zu setzen: Muss ich nicht helfen, wann immer ich einen Menschen in Not sehe? Sonst weise ich am Ende noch Christus zurück und werde von Ihm zurückgewiesen! Aus dieser Angst heraus schauen viele lieber nicht hin. Wegen ihres aufgescheuchten Gewissens – infolge eines moralistischen Missverständnisses der Bibel und der christlichen Lehre – sind viele Christen in Gefahr, zu notorischen Wegschauern zu werden.
Dabei hängt alles davon ab, hinzuschauen! Nicht nur, um unseren Ruf zu erkennen, sondern auch, um zu unterscheiden, ob und wie weit gerade hier ein Ruf an mich ergeht. Und um die Gaben Christi zu empfangen, die Er für die bereit hält, die Er mit einer Aufgabe betraut. Noch vor aller Beauftragung will Er selbst sich mir zur Gabe machen, sodass ich, durch Seine Liebe und Kraft gestärkt, die Aufgabe auch erfüllen kann.
Deshalb war es gut, dass Margit zum Flüchtlings-Kaffee „hingeschaut“ hat. So konnte sie dort Christus finden. Dort hat Christus sie gefunden und konnte sie aus ihrer Bedrängnis herausführen. In der Gestalt von Bedürftigen ist Er der Bedürftigen als Bedürftiger begegnet. Wie der Frau am Jakobsbrunnen, die er bat: „Gib mir zu trinken“. Niemals brauchen wir uns davor zu fürchten, dass Gott von uns etwas verlangt. Auch dann nicht, wenn uns die Kräfte und Mittel fehlen, das von Ihm Verlangte zu leisten. „Gebt ihr ihnen zu essen“, sagte Jesus zu den Jüngern vor der Brotvermehrung. Dabei hatten sie fast nichts, und viele waren hungrig: eine absurde Überforderung! Dann aber gab Er ihnen, selber geben zu können: Das Wenige – fünf Brote und zwei Fische –, das Er von ihnen genommen hatte, gab Er ihnen gesegnet und gewandelt zurück, damit sie es an die Leute austeilten. „Und alle aßen und wurden satt“ (Mk 6,41-42). Auch der Frau am Jakobsbrunnen gab er, selber geben zu können:
„Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ (Joh 4,14)
Etwas von diesem Wunder hatte Margit beim Flüchtlings-Kaffee und den darauf folgenden Begegnungen erlebt. So können die Verheißungen der Weltgerichtsrede erfahrungsmäßig zugänglich werden:
„Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war ... fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen.“ (Mt 25,35)
„Das Reich in Besitz nehmen“: Das ist nicht bloß eine Verheißung für das Leben nach dem Tod! Bereits hier und jetzt konnte Margit – ein Stück weit – das Reich in Besitz nehmen: indem sie von Jesus „lebendiges Wasser“ empfing, sodass sie nicht bloß mit eigener, sondern mit Seiner Kraft wirken konnte.
Aber auch die Warnungen in der Weltgerichtsrede gelten bereits für hier und jetzt: Wer sich Jesu Ruf an die Grenze entzieht, bleibt mit seinen begrenzten Mitteln allein. Und so wird es gewiss nicht reichen! Hätten die Jünger sich dem Ruf Jesu „Gebt ihr ihnen zu essen“, entzogen, dann wären sie mit den fünf Broten und zwei Fischen nicht satt geworden. Und vermutlich hätten sie sich auch noch an der Verteilungsfrage zerstritten. Hätte die Frau am Jakobsbrunnen Jesus nicht zu trinken gegeben, so wäre sie unerfüllt heimgegangen, um mit ihrem ungesättigten Lebensdurst vielleicht noch andere Männer unglücklich zu machen. Und hätte Margit sich ausschließlich um ihre eigenen Probleme gekümmert, dann wäre sie von diesen aufgefressen worden. Das ist die Bedeutung der warnenden Texte in der Weltgerichtsrede:
„Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!“
Nicht Jesus verhängt dieses Strafgericht über uns, sondern es ist ein Selbstgericht, das wir uns selber zufügen, indem wir es sind, die Seiner Begegnung entflohen sind (vgl. Joh 3,17-21). Und auch dieses Selbstgericht bezieht sich nicht erst auf das Leben nach dem Tod! Bereits hier und jetzt erfahren wir etwas vom Fluch und Feuer, vom teuflischen Schicksal derer, die alles nur für sich allein haben wollen, wenn wir uns Ihm entziehen, wo Er uns Seinen Durst anbietet, damit wir – an unsere eigenen Grenzen geführt – Ihn bitten und Er uns lebendiges Wasser gibt. Ohne dieses Wasser werden wir verdursten.
„Europa, wenn du nicht teilst, wirst du sterben!“
All dies gilt nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für Gemeinden, Nationen und nicht zuletzt für ganz Europa. „Europa, wenn du nicht teilst, wirst du sterben!“, war ein prophetisches Wort über unseren Kontinent, das bei einem europäischen charismatischen Treffen vor 35 Jahren ausgesprochen wurde (siehe Bericht hier). Gerade wegen der Überforderungen, die wir Europäer mit unseren eigenen Problemen haben, dürfen wir uns nicht auf uns selbst zurückziehen. Gerade deshalb dürfen wir die Grenzen nicht dicht machen. Gerade deshalb müssen wir uns von Christus an unsere eigenen Grenzen führen lassen!
Das heißt nicht, dass wir einfach „alle reinlassen“ müssen. So etwas wäre auch für die überforderte Margit der falsche Rat gewesen. Alles hängt davon ab, zunächst einmal unbefangen hinzuschauen, – wie Margit zum Flüchtlings-Kaffee „hingeschaut“ hat. Vielleicht wäre ihr Christus dort auch nicht in einer besonderen Weise begegnet. Dann hätte sie mit netten Menschen einen Kaffee getrunken und wäre anschließend wieder heimgefahren. Das wäre völlig in Ordnung gewesen. Nicht jedes Treffen ist ein Kairos (das heißt, ein besonderes Gnadenereignis) der Begegnung mit Christus. Nicht jeder Bedürftige ist eine Aufgabe genau für uns! Deshalb müssen wir unterscheiden, wo es Christus ist, der uns ruft. Und auch dazu ist es nötig, hinzuschauen. Nämlich so, dass wir nicht nur das Flüchtlingsproblem sehen, sondern die Menschen; und nicht nur die Menschenmengen, sondern den Einzelnen unter den vielen. Die Flüchtlingskrise hat ein Gesicht. Finden wir es! Dann finden wir Ihn (gerade auch, wenn uns das absichtslos unbewusst bleibt) und werden von Ihm gefunden.
Auch das gilt nicht nur für Einzelne, sondern ebenso für die große Politik, für Europa. Hüten wir uns vor einer Politik, die statt betroffener Menschen nur mehr Flüchtlingsströme sieht, die einzudämmen und umzuleiten sind. Hüten wir uns vor einer Rhetorik, die das Wort Notlage für unsere eigenen Schwierigkeiten mit der Flüchtlingskrise reserviert, statt für die Überlebensprobleme der Vertriebenen. Wehren wir uns gegen ein Flüchtlingsmanagement, das die Menschen von uns fern hält, indem man sie in Lager abschiebt oder an den Landesgrenzen aussperrt. Wehren wir uns gegen „Notverordnungen“, die uns darauf festlegen, Menschen ohne Blick auf ihre Schutzbedürftigkeit allein schon deshalb zurückzuweisen, weil bei den Asylanträgen eine Obergrenze erreicht ist!
Es ist höchste Zeit aufzustehen. Aufzustehen auch zu öffentlichen Kundgebungen, um verängstigten Politikern zu zeigen, dass viele hinter einer Politik stehen, die verantwortungsvoll die Menschen in den Problemen sieht. Und aufzustehen vor allem, um den Vertriebenen Aug in Auge zu begegnen. Dass wir sie einladen, ihnen helfen und sie bei uns wohnen lassen, fällt dann leicht, wenn wir erst ihre Gesichter wahrgenommen haben – und uns in ihnen von dem finden lassen, der uns bittet: „Gib mir zu trinken!“
Der Text dieses Artikels ist im Original online zugänglich in: http://theol.uibk.ac.at/itl/1144.html