Einige Hintergründe für die Flüchtlingskrise in Europa und die Entwicklungen im Nahen Osten



Hans-Peter Lang

Jeden Dienstag gebe ich drei jungen Ehepaaren Deutsch-Unterricht. Zwei davon stammen aus Aleppo/Syrien, eines aus Bagdad/Irak. Zwei der Syrer sind Kurden. Sie verloren alles beim Bombardement der Stadt. Das Paar aus Bagdad musste weg, weil sie als Sunniten in einem schiitischen Stadtteil wohnten und dort nicht länger ihres Lebens sicher waren.

Dies alles beleuchtet nur zu einem kleinen Teil die vielfältigen Gründe des heute so dramatisch angewachsenen Flüchtlingsstromes nach Europa. Die Hintergründe helfen uns zu verstehen, was sich da heute abspielt.

1. Die Strategie der Problemverweigerung

Europa hat lange Zeit bei der Frage der Flüchtlinge aus Afrika eine Strategie der Problemverweigerung, des Kopf-in-den-Sand-Steckens verfolgt und verfolgt sie weitgehend auch heute. Der Ausbau der Grenzsicherung mit FRONTEX und hohe Zäune um die spanischen Enklaven in Nordafrika schienen das Rezept zu sein. Tausende warteten und warten heute in Nordafrika auf irgendeine Chance nach Europa zu kommen. Die vielen Ertrunkenen im Mittelmeer vor der italienischen Insel Lampedusa zogen dann doch ein Erwachen nach sich. Aber es wird immer noch trotz aller Warnungen von Klimaforschern und Afrika-Kennern negiert, dass dieser Flüchtlingsstrom weiter anschwellen wird, weil viele Menschen in Afrika durch Dürre, politische Unruhen usw. ihre Lebensgrundlage verlieren. Gegenmaßnahmen im Sinne einer Hilfe-zur-Selbsthilfe in diesen Ländern gibt es bisher nur in geringem Ausmaß. Ein nicht geringer Teil des Reichtums Europas kam aus diesen Ländern – aber zurück fließt nur wenig, gemessen an der Not von heute. Dabei wäre eine solche rasche und großzügige Hilfe nicht nur eine moralische Notwendigkeit, sondern würde uns auch viele Probleme in der Zukunft ersparen.

Diese Strategie der Problemverweigerung beherrschte auch viele europäische Politiker in der ersten Zeit der Flüchtlingsbewegung aus dem Nahen Osten. Man unterschätzte anfangs das auf Europa zukommende Problem, viele europäische Staaten sahen sich als nicht zuständig. Kaum wo an den Außengrenzen der EU dachte man daran, zwischen Kriegsflüchtlingen und Menschen, die aus anderen Gründen nach Europa wollen, zu unterscheiden.

2. Die Geschichte der Länder des Nahen Ostens

Der Zerfall des osmanischen Reiches 1919/20 und das Ende des Kalifats 1924 ließ die einstmals starke religiöse, politische und militärische Klammer untergehen, die diesen Vielvölkerstaat zusammen gehalten hatte. Die siegreichen Großmächte des 1.Weltkrieges versuchten, sich in diesem Raum Land und Einfluss zu sichern. Die Griechen besetzten erhebliche Teil im Westen der Türkei, wo starke griechische Minderheiten siedelten, die Franzosen Teile der Süd-Türkei und das heutige Syrien, die Engländer den heutige Irak. Die rasch anwachsende türkische nationale Bewegung mündete in den türkischen Befreiungskrieg. Die griechische Armee und mit ihr 1,5 Millionen Griechen wurden aus dem Land vertrieben; die französischen und britischen Truppen verließen das Land. Die von den Alliierten den Kurden versprochene Autonomie wurde nicht realisiert.

Die Grenzen des heutigen Syrien und des Irak wurden auf den Schreibtischen der Siegermächte Frankreich und Großbritannien fixiert (entsprechend dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916). Dabei spielten schon die Ölquellen im Zweistromland und der Transport des Öls an das Mittelmeer durch Pipelines eine entscheidende Rolle.

Frankreich verwaltete das heutige Syrien bis zum Ende des 2.Weltkrieges, anfangs mit sechs getrennten Regionen auf Grund der starken religiösen und ethnischen Unterschiede und Spannungen im Land (Sunniten, Schiiten, Aleviten, Drusen, Christen - Kurden, Armenier...). Die autoritären Regime unter den Präsidenten der Familie Assad prägten die letzten vier Jahrzehnte bis zum „Arabischen Frühling“, mündend in eine Eskalation von Aufstandsbewegungen und in einen Bürgerkrieg seit 2011. Kennzeichnend für die Präsidenten aus der Familie Assad waren innenpolitisch ein scharfes Vorgehen gegen Muslim-Brüder sowie die Toleranz gegenüber Christen, außenpolitisch ihre Bündnisse mit Ägypten, die Teilnahme an den Kriegen gegen Israel, die zeitweise Besetzung von Teilen des Libanon und eine starke Verbindung zum Iran sowie eine „Anlehnung“ an Russland. Mit der Türkei war das Verhältnis immer wieder angespannt. Die Grenzübergänge erinnerten mich bei einem Besuch im Jahr 2010 in Aleppo von der Türkei aus stark an den „Eisernen Vorhang“ der Nachkriegszeit in Mitteleuropa. Die intensive Nutzung des Wassers des Flusses Euphrat in der Türkei und die Ängste der Syrer, davon zu wenig zu bekommen, trug wesentlich dazu bei.

Der Iran wurde während des 1. und des 2.Weltkrieges jeweils von englischen und russischen Truppen besetzt. England sicherte sich dort schon früh den entscheidenden Einfluss und die Gewinne aus den Ölquellen, aber ebenso im Irak. Im Iran wurde 1951 Mohammad Mossadegh Premierminister. Er betrieb energisch Verhandlungen mit Großbritannien, um die geringen Einkünfte des Iran aus den Ölquellen zu erhöhen. Dies führte letztlich dazu, dass Mossadegh durch eine Aktion des britischen und des amerikanischen Geheimdienstes gestürzt wurde. Der Schah und das Militär führten jahrelang ein autoritäres Regime mit radikaler Entmachtung der hohen schiitischen Geistlichkeit. Der Schiitenführer Ajatollah Chomeini, der führende Gegner des Schahs, musste ins Exil gehen. 1979 wurde nach blutigen Unruhen gegen den Schah die starke Unterstützung des Regimes durch die USA und den Westen eingestellt und Ajatollah Chomeini ins Land geholt. Er proklamierte die Islamische Republik Iran.

Der Irak war nach dem 1.Weltkrieg Mandatsgebiet des Völkerbundes. Da den arabischen Führern von Großbritannien ein selbstständiges Königreich als Gegenleistung für ihre Erhebung gegen die türkische Herrschaft im 1.Weltkrieg versprochen worden war, gab es blutige Aufstände gegen die Briten. Daraufhin wurde der aus Arabien stammende sunnitische König Faisal I. eingesetzt. Die Ölförderung blieb weiter fest in ausländischer Hand. Gegen Großbritannien sich richtende Regierungen in der Zeit des 2.Weltkrieges wurden rasch durch britisches Militär entmachtet. 1958 wurde in einem Putsch die Monarchie abgeschafft und die britische Oberherrschaft abgeschüttelt. Die demokratische Entwicklung dauerte nur kurze Zeit. Die Schiiten und Sunniten des Landes gerieten immer wieder aneinander. Ein Putsch folgte dem anderen ab 1960, ebenso gab es immer wiederkehrende Kämpfe mit den Kurden im Nordosten des Landes. 1979 kam Saddam Hussein an die Macht. Er führte – massiv durch Waffenlieferungen unterstützt von den ehemaligen Großmächten Europas und den USA - acht Jahre lang Krieg gegen den Iran, den Unterstützer der Kurden und der Schiiten im Irak und versuchte 1990 Kuwait zu erobern. 1991 vertrieben internationale Truppen unter der Führung der USA die Iraker wieder aus Kuwait. Die Vereinten Nationen verhängten in der Folge massive Wirtschaftssanktionen gegen den Irak, die weite Teile der Bevölkerung verarmen ließ und mehr als 1 Million Kinder das Leben kostete.

Der Irak wurde in der Folge beschuldigt, Massenvernichtungswaffen herzustellen. Internationale Kontrollkommissionen fanden jedoch im Land keine. 2003 begann unter der Führung der USA ein Krieg gegen den Irak, um Saddam Hussein zu stürzen und die angebliche Produktion von Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Die Invasion, die Beseitigung Saddam Husseins und die Einsetzung einer neuen Regierung brachten keinen Frieden. Nach dem Abzug der Amerikaner 2009 versank das Land bald im Chaos streitender Gruppen mit unzähligen blutigen Anschlägen. Die Gebiete der Kurden spalteten sich faktisch ab, im Norden entwickelte sich der islamische Staat (IS), der sich rasch ausbreitete. Große Fluchtbewegungen setzten ein, vor allem bei den Bevölkerungsgruppen der Christen und Jesiden.

3. Der Hochmut Europas gegenüber den Arabern

Der Arabisch sprechende Raum war im Osmanischen Reiches immer schon gekennzeichnet durch zeitweise große innere Spannungen zwischen Stämmen und Völkerschaften, bedingt auch durch die verschiedene Geschichte und Religion. Davon berichten viele europäische Reisende im 19.Jahrhundert. Das Osmanische Reich war in der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung stark hinter Europa zurückgeblieben und kämpfte mit starken nationalen Bewegungen im Inneren. Das Wort vom „Kranken Mann am Bosporus“ machte in Europa die Runde. Großbritannien hatte sich in Ägypten starken Einfluss gesichert – der Suezkanal wurde für das British Empire als lebenswichtig angesehen.

Als sich im 1.Weltkrieg der Zerfall des Osmanischen Reiches abzuzeichnen begann, einigten sich Franzosen und Engländer im schon genannten geheimen Sykes-Picot-Abkommen, den Arabisch sprechenden Raum im Nahen Osten untereinander aufzuteilen. Den arabischen Führern andererseits hatte man für die Beteiligung an einem Aufstand gegen das Osmanische Reich ein Königreich unter einem arabischen König versprochen, den Juden eine eigene „Heimstätte“, was von arabischen Führern scharf abgelehnt wurde. Wenn einheimische Könige eingesetzt wurden, dann waren es nur solche, die den Großmächten genehm waren und ihre Wirtschaftsinteressen nicht störten. Das änderte sich erst in den Jahren nach dem 2.Weltkrieg schrittweise und meist nach blutigen Konflikten. Ein letzter Versuch, das Schwinden des Einflusses der europäischen Großmächte im Nahen Osten aufzuhalten, war die Intervention Großbritanniens und Frankreichs, die mit Hilfe Israels am Suezkanal 1956 stattfand. Damals sollte mit militärischen Mitteln versucht werden, gegenüber den Forderungen Ägyptens den Suezkanal unter dem Einfluss der Großmächte Europas zu behalten. Die Operation gelang zwar militärisch, scheiterte aber letztlich unter dem internationalen Druck.

Die militärische Intervention der USA und ihrer Verbündeten im Irak (Golfkriege III) auf Grund nie bewiesener Beschuldigungen der Produktion von Massenvernichtungswaffen war der – hoffentlich - letzte Akt dieser Tragödie, in der Hochmut, ausländische wirtschaftliche Interessen und insbesondere die Sicherung der Ölversorgung die wesentlichen Faktoren waren.

Nicht zuletzt hat das in den letzten Jahrzehnten dominierende neo-liberale Wirtschaftssystem Europas und der USA einiges zu den enormen sozialen Spannungen in den Großstädten der islamischen Welt beigetragen. Ungenügende und teilweise fehlende Schulbildung, Landflucht und damit rasch anwachsende Großstädte haben in Großstädten wie Kairo, Bagdad oder Karatschi Millionen meist junge Menschen stranden lassen, arbeitslos, ohne Chancen eine Familie zu gründen, ohne Hoffnung. So wie in der westlichen Welt wurden die Reichen reicher, die Armen ärmer, die Millionäre und Milliardäre in Saudi-Arabien ebenso mehr wie die in den USA und Europa. Wen wundert es, dass diese jungen Menschen leicht erreichbar sind für Prediger des Islam?

Der „Westen“ wird heute von der Mehrheit der Menschen im arabischen Raum wegen seiner technischen Leistungen bewundert, wegen dem Verfall seiner moralischen Werte verachtet und durch die Erfahrungen in der Geschichte gehasst.

4. Krise des Islam ?

Schon bald nach dem Tode Mohammeds spaltete sich der Islam durch die Frage der Nachfolge im Amt des Kalifen in Sunniten und Schiiten. In späteren Jahrhunderten entstanden die Aleviten und Alawiten und andere Richtungen, von den Sunniten als Häretiker ebenso abgelehnt wie die Bewegung der Sufis, einer mystischen Richtung des Islam. Heute weltweit dominant sind die Sunniten.

Die Toleranz gegenüber anderen nicht-muslimischen Glaubensrichtungen war in der Geschichte des Nahen Ostens sehr unterschiedlich. So wurde die zuerst überwiegende, dann später noch sehr starke christliche Bevölkerung unter muslimischer Herrschaft zeitweise durchaus geduldet, oft aber auch unter Druck gesetzt und nicht selten blutig verfolgt. In der Zeit des europäischen Mittelalters erreichte der Islam im Nahen Osten eine kulturelle Blüte. Das Wissen muslimischer Gelehrter z.B. auf dem Gebiet der Medizin war Europa weit voraus in dieser Zeit. Islamische Führer fanden teilweise auch bei Europäern eine große Hochachtung, wie bei Franz von Assisi, der selbst mit dem Sultan in Ägypten lange Gespräche geführt hatte.

Dem Osmanischen Reich gelang es mit zum sehr Teil harten Methoden, die verschiedenen Richtungen unter Kontrolle zu halten und kriegerische Auseinandersetzungen zu beenden. Nach dem Ende dieses Reiches wurden in der Türkei die früher sehr mächtigen geistlichen Führer völlig entmachtet. In anderen Ländern schafften das nach dem 2.Weltkrieg für eine gewisse Zeit Diktatoren wie Saddam Hussein im Irak und Vater und Sohn Assad in Syrien. Im weitgehend schiitischen Iran schwankten die Verhältnisse zwischen der gewaltsamen Zurückdrängung des Einflusses der islamischen Geistlichen unter dem letzten Schah und deren völligen Machtübernahme im islamischen Staat Iran.

Ein sunnitisch geprägter „Islamischer Staat“ neuer Form mit starkem, geistlichem Einfluss aus Saudi-Arabien entstand im sogenannten IS-Staat. Ähnliche Ideen werden von gleichgesinnten Gruppen wie Boko Haram (übersetzt „Bücher sind Sünde“) in Nigeria vertreten. Für alle diese radikalen Entwicklungen kennzeichnend ist die uneingeschränkte Anwendung des islamischen Rechtes, der Scharia, sowie die völlige Intoleranz und blutige Verfolgung aller Christen und aller nicht sunnitischen Muslime.

Es soll aber heute auch eine Art Gegenbewegung nicht übersehen werden, die versucht, die Lehre Mohammeds von den Gesetzen des Staatswesens zu trennen, das unter seiner Führung entstand. Einige islamische Gelehrte in Europa vertreten diese Richtung. Sie kehren die im Koran so oft erwähnte Barmherzigkeit Gottes hervor und weisen auch auf die großen Mystiker in der Geschichte des Islam hin. Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, ist ein prominenter Vertreter eines „neuen Islam“, ebenso Mouhanad Khorchide von der Universität Münster.

Die zunehmenden Spannungen und blutigen Verfolgungen innerhalb der islamischen Gemeinschaft, gepaart mit politischen Interessen und den Einflüssen von außen erinnern in furchtbarer Weise an die Zeit des
30-jährigen Krieges in Europa und seiner Folgen, aber ebenso an andere Ereignisse in Europa wie die Segnung der Waffen bei den „christlichen“ Heeren in den verschiedenen Ländern Europas, die in den 1.Weltkrieg zogen. Bei vielen Menschen war damit die Glaubwürdigkeit des Christentums dahin.

Wird so eine Entwicklung auch den Islam treffen angesichts der heutigen Ereignisse?

5. Die Haltung der EU

Die bestehenden Schwächen der Europäischen Gemeinschaft sind durch den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Südosten voll sichtbar geworden. Kennzeichnend waren:
  • default_titleEine gewisse Hilflosigkeit gegenüber dem unkontrollierten Zustrom angesichts offener Grenzen und dem Zustrom über das Meer
  • default_titleLange Zeit keinerlei europäische Zusammenarbeit zur Unterscheidung bzw. für Kontrollen der ankommenden Flüchtlinge in den Erstaufnahmeländern, besonders in Griechenland
  • default_titleDeutschland als Zielland Nr.1 und seine Folgen
  • default_titleBis heute keine Einheit und große Gegensätze bei der Flüchtlingsaufnahme in den Ländern der EU - großer Widerstand in Polen, der Slowakei, in Tschechien und Ungarn
  • default_titleDas Recht auf Asyl – in Österreich begrenzt auf 37500 Personen pro Jahr?
  • default_titleWas geschieht mit Flüchtlingen, die sich an nationalen Grenzen längst der nun geschlossenen Balkanroute stauen?
  • default_titleDie Errichtung von Zäunen und die damit einhergehende Förderung des Schlepperunwesens
  • default_titleBisher wenig Hilfe für die großen Flüchtlingslager in den Nachbarländern Syriens, um die Menschen dort zum Bleiben zu bewegen
  • default_titleWeitgehende Beibehaltung der Strategie der Problemverweigerung gegenüber dem in den nächsten Jahren drohenden verstärkten Zustrom von Flüchtlingen aus Afrika
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In vielen europäischen Ländern gab und gibt es zunehmende innenpolitische Gegensätze in den Fragen der Flüchtlingsaufnahme und der Integration. Einer örtlich guten Versorgung und Annahme stehen oft Ablehnung, Ängste und Diskriminierung gegenüber. Die Ergebnisse von Wahlen in verschiedenen Ländern spiegeln diese Ängste wider. Wird es Europa schaffen, mit diesen Herausforderungen zurechtzukommen und seinem sicher oft verschütteten christlichen Erbe gerecht zu werden?

Niederschrift eines Vortrages beim Treffen des „Runden Tisch“/Weg der Versöhnung am 4.3.2016 in Salzburg.